22 Juni 2016

MADAME oder der Duft des Salzes

Jeder ist anders.
Je mehr unser Verhalten einem Schwarm gleicht, desto eher gerät das Besondere in den Hintergrund. Oder hat jemand schon mal von der Einzigartigkeit einer Ameise geschwärmt? Oftmals - nicht immer, wird Einzigartigkeit erst mit dem Verlust spürbar. In der Nähe des Todes und im Wissen um Vergänglichkeit zeigt sich das Besondere. Daher schreibe ich hier jetzt meine Geschichte mit Hiltrud* (Namen geändert)
 
Madame oder der Duft des Salzes

Wenn ein Mensch „plötzlich und unerwartet“ stirbt, dann bleibt etwas zurück. Ein nicht getätigter Anruf, eine vermeintlich falsche Reaktion, eine zu schnelle Absage.
Es gibt Menschen, die sind so speziell, dass ihre Gegenwart schwer auszuhalten ist, beinahe weh tut – für mich. Zu diesen Menschen gehörte auch Hiltrud*. Eine Spur zu direkt, zu penibel, zu impulsiv, zu fordernd, zu schroff, zu engagiert, zu nah. Aber: Sie stellte mit der ihr eigenen Art eine Frage, die uns alle interessierte. „ Wie kommt die Kunst ins Leben?“.
Wir – 5 Frauen – haben uns mit dieser drängelnden Frage im Hinterkopf kennengelernt. Wir haben einen Raum geschaffen, indem etwas scheinbar Unmögliches möglich wurde. LIXE* – Kunst im Exil. LIXE*-Zeit. Verbunden hat uns die Suche nach einem Zustand der schöpferischen Hingabe und der Wunsch, „die Kunst ins Leben zu holen“. Wir haben uns in regelmäßigen Abstanden gemeinsam darauf eingelassen. Die dabei entstandenen „Werke“ sprachen wie alle „Kunst-Werke“ immer Bände und konnten kaum etwas von dem verbergen, was uns im Innersten berührt hat. Es ging uns um das genaue Hinschauen und um das aufmerksame Zuhören. Wir haben uns gut kennengelernt. Sehr gut. Zu gut.
Das Niemandsland, das Hiltrud* beschreibt, hat sich nach unserer gemeinsamen LIXE*-Zeit betreten. Dann mach ich mir eben meine eigene Chemo und wenn die nicht funktioniert, dann ab ins Licht“ hat sie gesagt. Ich wusste nichts von ihrer Erkrankung. Wenn ich es gewusst hätte, dann hätte ich mich möglicherweise anders verhalten. Hätte vielleicht eher angerufen, hätte unter Umständen eine neue Begegnung gesucht. Hätte, hätte, hätte. Wo kann ich dem, was offen bleibt, begegnen?

Vielleicht sollte ich mir bei den Menschen, die mir begegnen, immer wieder einmal vorstellen, dass sie „plötzlich und unerwartet“ oder auch „viel zu schnell“ sterben könnten. Vielleicht verändert allein diese Vorstellung das Zusammenleben?
 
Ein Versuch ist es wert. Ich probiere es einfach aus. Mal schauen, was sich verändert. Für Hiltrud.

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Meine blog-Einträge werden mit Zeichnungen von geflüchteten Menschen begleitet,
die gerade in Hamburg angekommen sind. Sie sind auf
Kunstaktionen vor ihren Notunterkünften entstanden.
Es ist mir eine große Ehre, dass ich dabei fotografieren durfte.
DANKE! 

 
Milan aus Albanien, 8 Jahre